Direkt zum Inhalt

Michas Geschichte

Micha wurde am 10. Oktober 1948 in Berlin-Mitte geboren. Zusammen mit seinem sechs Jahre älteren Bruder Peter, seinem Vater Otto und seiner Mutter Waleska lebte er die ersten Jahre in einer Kellerwohnung in Ost-Berlin. 1953 bezog die Familie eine Hinterhauswohnung in der Reinhardstraße 47, unmittelbar an der noch passierbaren Berliner Sektorengrenze. Zwei Jahre später starb Michas Mutter an Tuberkulose. Micha entwickelte ein enges Verhältnis zu der Nachbarin Tante Luzie, die für ihn zu einer Art Ersatzmutter wurde. Für ihn war es ganz normal, im Osten zu leben und zur Schule zu gehen und in West-Berlin Verwandte zu besuchen.

Im August 1961 erfuhr Micha in einem Pionierlager von der Abriegelung der Grenze. Zurück in Berlin beobachtete er den Mauerbau und spürte die Auswirkungen auf das Leben in der geteilten Stadt. Mitte September erfuhren sein Vater und er, dass sein Bruder Peter mit dem Sohn von Tante Luzie in den Westen geflohen war. Aus Angst vor negativen Konsequenzen für die Familie und angesichts seiner beruflichen Perspektivlosigkeit entschloss sich auch Michas Vater zur Flucht aus Ost-Berlin. Nach langem Zögern entschied sich Tante Luzie mitzukommen. Zusammen mit Peters Freund Helmut schmiedeten sie Fluchtpläne. Im Oktober 1961 war es dann soweit. Beim dritten Versuch gelangten sie auf abenteuerlichem und gefährlichem Weg durch die Berliner Kanalisation in den Westen.

Nach der Flucht kamen Micha und die anderen in das Notaufnahmelager Marienfelde und flogen wenige Tage später vom Flughafen Tempelhof in die Bundesrepublik. Micha baute sich ein neues Leben in Nordrhein-Westfalen auf. Nach dem Fall der Mauer begann er, seine Geschichte aufzuarbeiten.

Fotos und Dokumente

  • alt

    Micha, Otto und Peter (v.l.n.r.), ca. 1950
    © Stiftung Berliner Mauer, Michael Synowzik

    Michas Kindheit war schwer: Sein Vater kam traumatisiert und körperlich extrem geschwächt aus russischer Kriegsgefangenschaft. Seine Mutter starb 1955 nach langer Krankheit. Sein großer Bruder Peter zog aufgrund seiner schwierigen Beziehung zum Vater bereits mit 18 in eine eigene Wohnung.

  • alt

    Micha und seine Mutter, ca. 1949
    © Stiftung Berliner Mauer, Michael Synowzik

    An das Singen seiner Mutter in der Wohnung erinnert sich Micha gern zurück. Der frühe Verlust seiner Mutter war für ihn sehr schmerzhaft. In den letzten Monaten ihres Lebens durfte Micha aufgrund der Ansteckungsgefahr nicht mehr in ihre Nähe.

  • alt

    Klassenfoto von Michas Schulklasse, ca. 1958
    © Stiftung Berliner Mauer, Michael Synowzik

    Micha ging zunächst auf die Volksschule in der Reinhardt-/Ecke Albrechtstraße und wechselte im Sommer 1959 zur Polytechnischen Oberschule in der Hannoverschen Straße. Das war die allgemeine Schule für Kinder bis zur zehnten Klasse. Nach dem Mauerbau 1961 besuchte er dort die 7. Klasse.

  • alt

    Arbeitsnachweis des Vaters
    © Stiftung Berliner Mauer, Michael Synowzik

    Michas Vater war gelernter Schneider. Da er sich jedoch weigerte, in die SED einzutreten und Kritik an der SED-Regierung übte, durfte er nicht mehr als Schneider tätig sein. Notgedrungen arbeitete er in einem Kino und nahm privat noch Schneideraufträge an, um das geringe Gehalt aufzubessern. Mit dem Mauerbau verlor er aber seine Kundschaft aus West-Berlin.

  • alt

    Blick in die Reinhardtstraße vom Haus Nr. 47 Richtung Osten, ca. 1959/60
    © Stiftung Berliner Mauer, Michael Synowzik

    Micha wohnte in der Reinhardtstraße, die wie viele Straßen in Berlin stark von den Spuren des Krieges gezeichnet war. Trümmergrundstücke und Brachgelände nutzte er zum Spielen. Auf dem Eckgrundstück direkt hinter dem weißen Auto lag einer seiner „Lieblingsspielplätze“.

  • alt

    Peter Synowzik in der Ost-Berliner Chausseestraße, 1961
    © Stiftung Berliner Mauer, Michael Synowzik

    Michas großer Bruder Peter war sechs Jahre älter und zog früh aus der elterlichen Wohnung aus, weil er immer wieder in Streit mit dem Vater geriet. Eigentlich sollte Micha keinen Kontakt haben, aber er besuchte ihn heimlich in dessen Wohnung ganz in der Nähe.

  • alt

    Peters Antrag für die Aufenthaltserlaubnis in der Bundesrepublik, 1961
    © Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Außenamt Gießen

    Peter floh am 16. September 1961 mit dem Sohn von Tante Luzie nach West-Berlin. Micha und sein Vater erfuhren dies erst einige Tage später durch Peters Freund Helmut. Auf Peters Antrag für die Aufenthaltserlaubnis in der Bundesrepublik findet sich der handschriftliche Hinweis „1500m durch Kanalisation raus nach WB [West-Berlin] gelangt“. Gemeinsam mit Helmut wählen Otto und Micha einen Monat später dieselbe Fluchtmöglichkeit.

  • alt

    Anzeige der Volkspolizei-Inspektion Mitte, 22.10.1961
    © BArch, MfS, AU, 8055/62, Bd. 1/73

    Beim ersten Fluchtversuch waren Micha, sein Vater, Tante Luzie und Helmut von einem Volkspolizisten angehalten worden. Sie konnten sich aber rausreden. Beim zweiten Versuch hatten sie schon den Kanaldeckel geöffnet, mussten aber abbrechen, weil eine größere Personengruppe aus einem naheliegenden Haus kam. Als Helmut kurze Zeit später noch einmal die Lage sondieren wollte, verschwand er. Erst die Recherchen für dieses Projekt haben gezeigt, dass er in der Nacht verhaftet wurde. In den anschließenden Vernehmungen gestand Helmut die Fluchtabsicht und den Fluchtweg, verriet jedoch nicht den Rest der Gruppe.

  • alt

    Skizze zur angeblichen Fluchtroute aus Helmuts Vernehmung durch die Stasi, 1961
    © BArch, MfS, AU, 8055/62, Bd. 1/46

    Die Fluchtroute durch die Kanalisation war einfach gedacht: Vom Einstieg in der Mohrenstraße wollten sie nur einmal in die Friedrichstraße abbiegen und auf der West-Berliner Seite wieder aussteigen. Auf diesem Weg versuchte Micha vorab die Kanaldeckel zu zählen. Die Route verriet Helmut nach seiner Festnahme beim zweiten Fluchtversuch.

  • alt

    Ausschnitt aus dem immer noch aktuellen Plan der Kanalisation, 1910
    © Berliner Wasserbetriebe

    Dieser Plan der Berliner Wasserbetriebe zeigt den Verlauf der Kanalisation (blau) in der Mohrenstraße. Sie schwenkt zunächst zur südlichen Straßenseite, um dem U-Bahn-Tunnel Platz zu machen, und dann in die Charlottenstraße in südliche Richtung. So bewegten sich Micha, sein Vater und Tante Luzie im Zickzack gen West-Berlin: Von der Mohrenstraße links in die Charlottenstraße, rechts in die Zimmerstraße, links in die Friedrichstraße und rechts in die Kochstraße. Die Orientierung haben sie dabei schnell verloren.

  • alt

    Plan der Stasi zu Kanälen am Grenzübergang Friedrich-/Zimmerstraße, o.D.
    © BArch, MfS, HA IX/11, UTA Nr. 13, Teil 3, Bl. 15

    Die Stasi wusste von den begehbaren Abwasserkanälen, die von Ost- nach West-Berlin führten. Nach und nach sicherte sie diese mit baulichen und elektrischen Anlagen gegen Fluchtversuche. Dieser Plan zeigt den Kanal, durch den Micha und die anderen gelaufen sind, und das Sperrgitter, unter das sie durchtauchen mussten.

  • alt

    Plan der Stasi zur Vergitterung von grenzüberschreitenden Kanälen, 1961
    © BArch, MfS, HA IX/11, UTA Nr. 13, Teil 2, Bl. 59

    Nur 14 Tage nach Michas erfolgreicher Flucht wäre diese am Sperrgitter in der Zimmerstraße gescheitert: Am 9./10. November 1961 wurde es verstärkt.

  • alt

    Michas Taschenuhr
    © Stiftung Berliner Mauer, Michael Synowzik

    Eine Taschenlampe und eine Taschenuhr mit Leuchtziffern sollten Micha im Kanal etwas Licht spenden. Die Taschenlampe ging bereits beim Einstieg kaputt. Diese wäre aber wahrscheinlich auch zu auffällig gewesen. Die Taschenuhr hielt Micha über seine Schulter, sodass sein Vater und Tante Luzie wussten, wo er war.

  • alt

    Hummerbesteck
    © Stiftung Berliner Mauer, Michael Synowzik

    Micha und sein Vater konnten nur wenig ihres Besitzes auf der Flucht mitnehmen. Neben wichtigen Dokumenten waren dies Gegenstände, die Otto in West-Berlin verkaufen wollte, um Geld für den Neubeginn zu haben. Darunter war auch dieses geerbte Hummerbesteck. Es blieb in Familienbesitz und ist nun Teil der Sammlung der Stiftung Berliner Mauer.

  • alt

    Michas letztes Schulzeugnis in Ost-Berlin, 1961
    © Stiftung Berliner Mauer, Michael Synowzik

    Eine der wenigen Dokumente, die sie mitnahmen, war Michas letztes Zeugnis. Sie hatten versucht, es wasserdicht zu verpacken. Aber ebenso wie im Arbeitsbuch von Otto sind die Spuren der Flucht durch die Wasserflecken noch deutlich erkennbar.

  • alt

    Laufzettel aus dem Notaufnahmelager, 1961
    © Stiftung Berliner Mauer, Gudrun Pieper-Miersch

    Im Notaufnahmelager Marienfelde durchliefen Michas Vater und Tante Luzie wie alle Flüchtlinge aus der DDR das so genannte Notaufnahmeverfahren. Hier erwarteten sie zahlreiche Formulare und Befragungen, u.a. über ihre Fluchtgründe und über die Versorgungslage in der DDR. Ein Aufnahmeausschuss entschied, ob die Geflüchteten eine Aufenthaltsgenehmigung in Westdeutschland erhielten.

  • alt

    Aufnahmebescheid für Otto und Michael Synowzik, 2.11.1961
    © Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Außenamt Gießen

    Mit diesem Aufnahmebescheid für Michas Vater Otto erhielt die Familie am 2. November 1961 die Aufenthaltsgenehmigung für die Bundesrepublik. Er trägt auch den Stempel ihrer nächsten Station: das Durchgangslager Wesel in Nordrhein-Westfalen.

  • alt

    Micha, Otto und Luzie (v.l.n.r.) am Flughafen Tempelhof, 6.11.1961
    © Stiftung Berliner Mauer, Michael Synowzik

    Menschen, die aus der DDR geflohen waren, konnten nicht durch die DDR in die Bundesrepublik gebracht werden. So wurden auch Micha, sein Vater und Tante Luzie ausgeflogen. Kurz vor dem Abflug vom Flughafen Tempelhof entstand dieses Foto. Für alle drei war es der erste Flug ihres Lebens.

  • alt

    Artikel aus der Rheinische Post, 23.1.1962
    © Stiftung Berliner Mauer, Michael Synowzik

    Kurz nach der Flucht gab Micha ein Radiointerview über die Flucht und auch die Regionalpresse berichtete. Die genaue Fluchtroute verschwiegen die Synowziks stets, damit diese Information nicht in die Hände der Stasi gelangte. In den folgenden Jahren erzählte Micha nur noch engen Freunden von seiner Flucht.

  • alt

    Otto Synowzik am Checkpoint Charlie mit Blick auf den DDR-Grenzübergang, 1963
    © Stiftung Berliner Mauer, Michael Synowzik

    Michas Vater reiste 1963 nach West-Berlin, um seine dortigen Geschwister zu besuchen. Er nutzte den Besuch, um auch mit Tante Luzie zum Ort ihrer Flucht zurückzukehren.

  • alt

    Tante Luzie und Micha am Flughafen Düsseldorf, 1965
    © Stiftung Berliner Mauer, Michael Synowzik

    Michas Vater hatte Tante Luzie in Aussicht gestellt, sie nach der Flucht zu heiraten. Angekommen im Westen tat er dies jedoch nicht – und enttäuschte damit auch Micha zutiefst. Tante Luzie ging zunächst noch mit Micha und Otto nach Neuss, zog dann jedoch nach West-Berlin. Das Foto entstand bei ihrer letzten persönlichen Begegnung 1965.

  • alt

    Micha auf einem Feuerwehrwagen, 1960er Jahre
    © Stiftung Berliner Mauer, Michael Synowzik

    Nach seiner Schulzeit begann Micha 1964 eine Lehre zum Schriftsetzer und trat in die Freiwillige Feuerwehr ein. Mit 17 Jahren zog er in seine erste eigene Wohnung nach Düsseldorf. Er lernte sein Frau Heidi kennen und heiratete sie 1970. Mit ihr lebt er heute glücklich in Nordrhein-Westfalen.

  • alt

    Reste der Kronprinzenbrücke, 1972
    © Stiftung Berliner Mauer, Michael Synowzik

    Elf Jahre nach seiner Flucht fuhr Micha nach West-Berlin. Er besuchte den Checkpoint Charlie und die Reste der abgerissenen Kronprinzenbrücke. Vom westlichen Ufer warf er einen Blick auf seine alte Heimat in der Reinhardtstraße.

  • alt

    Micha vor der Tür seines ehemaligen Wohnhauses in der Reinhardstraße, 1990
    © Stiftung Berliner Mauer, Michael Synowzik

    Nach dem Fall der Berliner Mauer kehrte Micha 1990 nach Ost-Berlin zurück und besuchte seinen alten Wohnort und seine ehemals beste Freundin Margit.

Kurzfilme zum historischen Hintergrund

Diese drei kurzen Filme geben Dir Einblicke in die Zeit des Mauerbaus und der Panzerkonfrontation am Checkpoint Charlie 1961.

Podiumsgespräch mit Michael Synowzik

Im Rahmen des Messengerprojektes gab es ein moderiertes Podiumsgespräch mit Michael Synowzik und den beiden Projektleiterinnen Lisa Albrecht und Birgit Wienand. Einen Mitschnitt der öffentlichen Veranstaltung findest Du hier:

rbb inforadio-Sendung

Im Zuge des Projekts gab es auch eine Sendung im rbb inforadio, die hier nachgehört werden kann.

Anhören

Publikation

Zum Nachlesen:

„Meine Flucht durch die Berliner Kanalisation am Checkpoint Charlie“ von Michael Synowzik, Ratingen 2013

Micha hat nach dem Mauerfall begonnen, seine Geschichte aufzuarbeiten. Nach eingehender Recherche veröffentlichte er ein Buch über seine Flucht und sein Leben. Dankenswerterweise hat er uns eine PDF für den freien Download zur Verfügung gestellt.

Download Fluchtbuch [pdf, 11.7 MB]
Download Fluchtbuch [pdf, 11.7 MB]

Weitere Inhalte

Kartenausschnitt

Michas Welt

Hier kommst Du zur Karte mit Michas Fluchtroute.

Mehr
Key Visual

Michas Nachrichten

Hier kannst Du alle Nachrichten nachlesen, die im Rahmen des Projekts verschickt wurden, und erhältst eine Übersicht der Protagonistinnen und Protagonisten.

Mehr
3 Personen

Das Projekt

Hier werden die wichtigsten Fragen zum Projekt beantwortet und ein Einblick in das Feedback der Teilnehmenden gegeben.

Mehr
Nach oben